Wenn wir einen Moment innehalten und auf die Geschichte der Psychologie und Psychiatrie zurückblicken, wird deutlich, wie stark diese Bereiche an der Aufrechterhaltung unterdrückender Strukturen beteiligt waren. So wie viele verbreitete, vermeintlich „objektive“ Standards sind auch therapeutische Ansätze oft geprägt von patriarchalen, kapitalistischen, weiß-suprematistischen sowie cis-. hetero- und mononormativen Einflüssen. Historisch gesehen haben Psychologie und Psychiatrie verschiedene sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten pathologisiert, schädliche Stereotypen verstärkt und all jene ausgegrenzt, die nicht in das enge Bild dessen passen, was als „normal“ gilt.
„Ich glaube, dass Queer-Therapie auch eine Form von Aktivismus sein kann, dass wir den Menschen nicht nur zuhören, sondern ihnen wirklich Gehör verschaffen können. Und das nicht, um sie besser an einer leidvolle, kaputte Gesellschaft anzupassen, sondern um sie dabei zu unterstützen, sich zu behaupten, Heilung zu erfahren und sich letztendlich gegen die Ungerechtigkeiten zu wehren, die sie erleben.”
Queer bedeutet, etablierte Theorien zu hinterfragen, zu kritisieren und so zu erweitern, dass die Erfahrungen und Perspektiven von LGBTQ+-Menschen (und anderen marginalisierten Gruppen) einbezogen werden. Wenn wir eine Therapie queer gestalten, geht es um mehr als Affirmation: Affirmation bedeutet, Menschen, deren Identität fremdbestimmt wurde, grundlegenden Respekt entgegenzubringen und sie nicht zu pathologisieren. Das ist das absolute Minimum, und wir können noch viel mehr erreichen.
Wir können einen Raum schaffen, der wirklich inklusiv und transformativ ist, der alle Identitäten anerkennt und wertschätzt. Ein solcher Raum ist für alle von Bedeutung: Auch Cis-Menschen können viel lernen, wenn sie ihre Geschlechterrollen hinterfragen, und monogame Menschen profitieren davon, alternative Modelle der Liebe (und die Werkzeuge für Beziehungen dieser Modelle) kennenzulernen. Das Bewusstsein, dass es Alternativen zur Norm gibt, erweitert unseren Horizont.
Schwierige Fragen in der Queer-Therapie stellen
Therapie queer zu gestalten, bedeutet zunächst, schwierige Fragen zu stellen: Was heißt es überhaupt, „normal“ zu sein? Wer entscheidet, was das Ziel einer „erfolgreichen Therapie“ ist? Was ist die Geschichte des DSM, und wie wurde es genutzt, um menschliches Verhalten zu kategorisieren und zu kontrollieren? Was bedeutet es, in einer Gesellschaft zu „funktionieren”, in der Produktivität oft mehr zählt als Wohlbefinden? Inwiefern tragen wir zur Wellness-Industrie bei, die psychische Gesundheit zu einem Produkt macht, nur um Profit daraus zu schlagen? Wer gilt als Experte, und wessen Stimmen werden marginalisiert oder gar zum Schweigen gebracht? Wie ist die Macht im Bereich Therapie verteilt, und wie können wir an diesen Strukturen arbeiten, um echte Gleichberechtigung zu erreichen? Und letztlich: Wer trägt die Last des Leidens? Diese Fragen sind wichtig, um den Status quo zu hinterfragen und einen gerechteren Ansatz für psychische Gesundheit zu finden.
Eine queere Praxis bietet die Möglichkeit, solche Fragen zu stellen – uns selbst sowie mit Kolleg:innen und Klient:innen. Wir schaffen Platz für Stimmen und Identitäten, die sich den konventionellen Kategorien und Binärsystemen entziehen. Queer bedeutet auch, Menschen die Macht über ihre eigenen Geschichten zurückzugeben, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Erlebnisse und Erzählungen selbst zu gestalten. Gesellschaftliche Normen und Erwartungen halten uns oft klein – sie schränken nicht nur unsere persönlichen Freiheiten ein, sondern behindern uns auch als Gemeinschaft, halten uns in statischen Rollen gefangen, die echte Befreiung und Veränderung unmöglich machen. Indem wir diese Normen infrage stellen, können wir beginnen, unterdrückende Strukturen abzubauen und eine gerechtere, inklusivere Welt zu schaffen.
Das Zusammenspiel von Persönlichem und Politischem in der Queer-Therapie
In meinen Sitzungen geht es nicht nur um die individuelle Erfahrung in ihrer Isolation, denn wir existieren nicht einfach nur für uns selbst. Natürlich sprechen wir über Kindheit, Träume und Ängste, aber wir betrachten auch, wie Geschlechterrollen, Ethnie, sozialer Status, Sexualität, Geschlecht und andere soziale Identitäten das Leben prägen. Manchmal ist etwas, das zunächst sehr persönlich und individuell erscheint, in Wahrheit auch politisch und gesellschaftlich – und verdient es, ebenfalls aus dieser Perspektive betrachtet zu werden. Menschen zu überzeugen, dass ihre persönliche Erfahrung nichts mit Politik zu tun habe, hat eine sehr klare, unterdrückerische Geschichte. Als Feministinnen in den 1960ern für das Recht auf Abtreibung und gegen eine ungleiche Aufteilung der Hausarbeit kämpften, wurde ihnen vorgeworfen, „persönliche“ Probleme mit Politik zu verwechseln. Ironischerweise ist Abtreibung heute eines der politisiertesten Themen – und das zurecht. Wenn wir anerkennen, wie das Persönliche und das Politische zusammenhängen, können wir unsere individuellen Kämpfe in einem größeren Zusammenhang verstehen und auf kollektive Selbstbestimmung und Veränderung hinarbeiten.
Ich glaube, dass Queer-Therapie auch eine Form von Aktivismus sein kann, dass wir den Menschen nicht nur zuhören, sondern ihnen wirklich Gehör verschaffen können. Und das nicht, um sie besser an einer leidvolle, kaputte Gesellschaft anzupassen, sondern um sie dabei zu unterstützen, sich zu behaupten, Heilung zu erfahren und sich letztendlich gegen die Ungerechtigkeiten zu wehren, die sie erleben. Therapie kann ein radikaler Akt des Widerstands gegen die Systeme sein, die uns zu kontrollieren und zu definieren versuchen. Sie kann ein Raum sein, in dem wir unsere Stärken entfalten, Solidarität finden und Widerstandskraft aufbauen. Wenn wir ein therapeutisches Umfeld schaffen, das unterdrückende Normen infrage stellt und sowohl individuelle als auch kollektive Befreiung unterstützt, tragen wir dazu bei, eine Welt zu schaffen, in der alle die Freiheit haben, authentisch zu leben und sich zu entfalten. Denn „ein politischer Kampf kann der Kampf sein, deine Welt zu verändern“ –Sara Ahmed, Living a Feminist Life (227).
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